Radmarathon-Report: Marathonisti
Er ist 48 Jahre alt, arbeitet 40 Stunden pro Woche – und gewinnt nebenbei große, lange, schwere Radmarathons. Durch Training, Disziplin, Taktik. Ein Einblick in die Saison des Bernd Hornetz.
Eigentlich war das alles nicht so geplant. Und dann bin ich plötzlich in der Spitzengruppe, beim Granfondo Charly Gaul, einem Radmarathon, der schwierig ist und gut besetzt. Er ist eines von vielen Highlights meines Jahres 2016. Diese Saison ist wie ein Comeback für mich – und das im bereits fortgeschrittenen Radfahreralter. Das vergangene Jahr lief schlecht, ich bin wenige Rennen gefahren, kam nicht in Tritt, musste immer wieder wegen privater und beruflicher Verpflichtungen pausieren. Es ist mein 16. Jahr als Radfahrer. Erst im Alter von 32 habe ich das Rennrad für mich entdeckt. Jetzt bin ich eigentlich immer der Älteste, der bei den großen Radmarathons vorne rumfährt. Der Charly Gaul gehört zu den traditionsreichen Granfondos im Mutterland der Radmarathons, in Italien. 141 Kilometer lang, 4000 Höhenmeter schwer, Startort ist Trento. Eine absolute Besonderheit ist, dass es eine Art Bergankunft gibt: Das Ziel ist in Vason, auf fast 1700 Metern, der Schlussanstieg ist fast 20 Kilometer lang.
Fassungslos
Das wirkliche Rennen beginnt moderat. Vom Start weg folgt eine Attacke der nächsten. Wenn jemand geht, dessen Stärke ich kenne, gehe ich mit. Und so finde ich mich schon nach 40 Kilometern in einer Sechs-Mann-Spitzengruppe. Ich habe keine Ahnung, wie meine Form ist. Die Unsicherheit überwiegt. Als der Anstieg zum Monte Bondone beginnt, habe ich ein schlechtes Gefühl. Doch mit jedem Kilometer, mit jeden 100 Höhenmetern fühle ich mich besser. Ich sehe, dass die anderen mehr leiden als ich. In der Führung ziehe ich leicht das Tempo an, später drehe ich mich um und sehe, dass wir nur noch zu viert sind. Ab der Abfahrt fährt außer mir nur noch einer mit vollem Einsatz, der Sieger des Maratona d’les Dolomites, Cristian Nardecchia. Einer der anderen beiden konnte nicht mehr mitführen, der andere wollte nicht. Irgendwann bekomme ich leichte Bauchschmerzen – durch zu viele Gels und zu wenig Wasser. Im Schlussanstieg mache ich dann bis auf die letzten fünf Kilometer quasi alleine die Führungsarbeit. Dann ist nur noch einer an meinem Hinterrad. Jetzt muss ich taktieren. Ich gehe aus der Führung, es kommt fast zu einem kurzen Stehversuch – dann, endlich, fährt Luciano Mencaroni nach vorne. In meinem Kopf gehe ich die letzten zwei Kilometer durch. Ich kenne die Strecke gut. Dort muss mein Antritt kommen. Und so kommt es. Ich komme weg. Der letzte Kilometer tut weh, aber mein Körper ist von Glückshormonen geflutet. Ich rolle über die Ziellinie und kann nicht fassen, was gerade passiert.
Auf einen Platz unter den besten 20 hatte ich spekuliert. Jetzt wurde daraus der Sieg bei solch einem großen Rennen. Unfassbar. Die Zeit meiner besten Ergebnisse liegt schon ein wenig zurück. In den Jahren 2012 und 2013, als ich unter anderem den Nove Colli Radmarathon gewonnen hatte. Heute bin ich 48 Jahre alt und mir darüber bewusst, dass sicher die Spekulationen losgehen werden. Darüber, ob das bei mir mit rechten Dingen zugeht. Oder ob ich wie andere, bereits positiv getestete Radmarathonfahrer zu unerlaubten Mitteln greife, um meine Leistung zu steigern und mein Selbstwertgefühl. Dem ist nicht so. Die Erklärung ist ganz einfach. Es ist das erste Mal seit mehr als zwei Jahren Jahren, dass ich drei, vier, fünf [es waren genau drei] Monate kontinuierlich und konzentriert trainiert habe. Dazu habe ich aktuell noch drei Kilogramm weniger auf den Rippen. Mein Training versuche ich transparent zu gestalten, indem ich fast alle Fahrten per App aufzeichne und auf die Plattform Strava hochstelle. Aktuell steht dort eine Kilometerzahl seit Jahresbeginn von 18.600 – und 230.000 Höhenmeter.
Schweizer Träume
Früher in der Saison, beim Engadiner Radmarathon, hat es noch nicht ganz nach vorne gereicht. Auch hier war klar warum. Ich war noch nicht stark genug. Die Top-Drei waren noch eine Klasse besser am Berg und ich war noch etwas zu schwer. Als vorm letzten Anstieg, dem Albula, in meiner Gruppe nur noch gebummelt wurde, habe ich angetreten und nur Wolfgang Hofmann hat reagiert und ist mir hinterher. Wir sind zusammen oben angekommen – wie auch im Ziel, als vierter und fünfter. Zu diesem Zeitpunkt fuhr ich noch im Verein meines Heimatvereins RSV Forchheim. Heute sind wir Teamkollegen im Team Corratec. Im Engadin hätten wir klar die Teamwertung gewonnen, denn auch der Sieger fuhr in dem weiß-blauen Trikot des bayerischen Radherstellers: Johannes Berndl. Auch landschaftlich beziehungsweise von der Strecke her ist der Engadiner ein absoluter Traum. Vier Pässe über 2000 Meter, 211 Kilometer, von Zernez aus erst über den Ofenpass, dann die Forcola di Livigno, der Bernina, der Flüela und schließlich der Albula Pass.
Mehr Selbstbewusstsein
Nach dem Engadiner kam für mich das nächste Highlight in Österreich: der Tannheimer Tal Radmarathon. Die Runde führt durch das Allgäu, den Bregenzerwald, das Lechtal, über den steilen Riedbergpass und den Hochtannberg: 224 Kilometer, 3300 Höhenmeter. Durch das überraschend gute Ergebnis und ein weiteres Kilogramm weniger hatte ich diesmal schon mehr Selbstvertrauen. So bin ich dann das Rennen, wie ich es am liebsten mag, am ersten langen Anstieg sehr offensiv angegangen, um eine kleinere Spitzengruppe zu bilden. Vieles ergibt sich einfach spontan aus der gefühlten und tatsächlichen Verfassung. Die Gruppen liefen hier unglaublich gut, immer sind alle Fahrer mitgezogen. Zum Gaichtpass fühlte ich mich noch so stark, dass ich mir eine volle Attacke und ein Solo über die letzten 15 Kilometer zutraute. Nach 6:17 Stunden war ich im Ziel. Als erster.
Auch das hatte ich mir vor dem Startschuss nicht zugetraut. Das Selbstvertrauen wuchs im Verlauf dieser Saison immer weiter. Und so probierte ich mich auch in neuem Terrain aus: in einem Jedermann-Rennen des German Cycling Cups. Aber immerhin keinem, bei dem es am Ende zu einem Massensprint kommen würde, sondern dem am Nürburgring. Es war schweres Rennen, so wie ich es mag. Klar war ich in diesem Feld heuer ein bisschen der Exot, was sich dann auch in meiner Fahrweise niederschlug.
100 km/h
Gegen die Teamtaktiken der großen Mannschaften mit viele starken Fahrern, die ihre Kapitäne schützen, musste ich schon sehr viel an den Anstiegen investieren, um dort, wo jeder Farbe bekennen muss, deren Körner zu verbrennen. Das sollte sich dann gegen Ende auszahlen, als sich eine kleinere Gruppe bildete, die beim letzten Hauptanstieg bis auf drei Fahrer zerfiel. Wir kamen gemeinsam ins Ziel, ich als zweiter. Das Ganze ist schon ein sehr besonderes Event. Der Reiz besteht aus vielen Begebenheiten. Das Umfeld der Grand-Prix-Strecke und der alten Nordschleife. Außerdem gibt es so viele verschiedene Wettkämpfe gleichzeitig auf der Strecke. Man muss sehr konzentriert sein und den Überblick bewahren, sonst kann es auch gefährlich werden in den Abfahrten, in denen teilweise deutlich über 100km/h auf dem Tacho stehen. Zudem warten sechs Mal 500 Höhenmeter – also in jeder der sechs 24-Kilometer-Runden. Eine Herausforderung – aber eine, die ich mir selbst gestellt und voll genossen habe. //
Das Training
Im Training vor den Rennen ging es hauptsächlich um zwei Themen: zunächst einmal nach der langen Pause Grundlagen aufzubauen und viele Kilos zu verlieren. Mit etwa 900 Kilometer pro Woche habe ich mich mächtig ins Zeug gelegt. Möglichst 4,5 Stunden im Grundlagenbereich G1 und zwischendrin auch intensivere G2/EB-Intervalle. Dass dies überhaupt von Null auf Hundert so über zehn Wochen zu verkraften war, ist – so glaube nicht nur ich, sondern auch viel jüngere Trainingspartner – meine besondere Stärke. Wenn ich einigermaßen mit der Intensität haushalte, kann ich sehr kompakt über die vielen Kilometer schon eine sehr gute Grundform aufbauen. 12.000 Kilometer in drei Monaten führen zu einem ganz anderen Niveau als die gleichen Kilometer in fünf Monaten. Gleichzeitig schmelzen dann auch die Kilos viel schneller, auch weil ich einfach viel weniger Zeit für eine weitere Leidenschaft habe: Essen. Die letzten drei Wochen vor dem ersten Wettkampf habe ich dann deutlich mehr Intensitäten eingestreut. Fast alles am Berg, mit Intervallserien zwischen zwei und 30 Minuten an unterschiedlichen Trainingstagen. Zum Beispiel: 3 Serien je 5 x 2 Minuten SB (>420Watt) oder 3 x 20 - 30 Minuten (> 320Watt). Die richtige Form kommt eben nur, wenn man wirklich hart trainiert und dazwischen ordentlich regeneriert. Eine ganz einfache Formel, die aber von vielen nur sehr schwer einzuhalten ist. Auch von mir, weil oft Zeit für die idealen acht Stunden Schlaf fehlt. Zwischen den Rennen habe ich gar nicht so sehr fokussiert auf die Ergebnisse trainiert, weil der weitere Formaufbau noch im Vordergrund stand. Also weiterhin hohe Umfänge, aber meist nur ein bis zwei intensive Tage. Die Rennen sind intensiv genug und halfen mir auch, nochmals Gewicht zu reduzieren.
Bernd Hornetz
Der 48-Jährige lebt bei Karlsruhe und arbeitet in der IT-Beratung. Zum Radsport kam er erst im Alter von 32 Jahren. Als erster Nichtitaliener gewann er den berühmten Nove Colli Radmarathon. Im vergangenen Jahr fuhr er für das italienische Granfondoteam Beraldo Green Paper, seit Mitte dieser Saison nun für das deutsche Team Corratec, zu dem viele sehr erfolgreiche deutsche Radmarathonspezialisten gehören, unter anderem Johannes Berndl. Sein Beraldo- Teamrad hat er inzwischen gegen ein Corratec CCT Evo DA getauscht.