Das Race Across Germany als Handicap-Sportler. Mehr als 30 Stunden gegen Wetter, Strecke und sich selbst. Der emotionale Erfahrungsbericht. Das Rennen führt von Flensburg über 1100 Kilometer und 7500 Höhenmeter nach Garmisch-Partenkirchen. 20 Jahre nach seinem einem schweren Schlaganfall ging Michael Büttner als Handicap-Athlet an den Start. Sein emotionaler Erfahrungsbericht
Was treibt einen behinderten Menschen auf so eine Strecke, die schon für nicht behinderte die Hölle sein kann? Und das auch noch ohne Begleitfahrzeug und Solo. Solche Fragen stellte ich mir nie in den 14 Jahren, die ich nun schon meine Grenzen verschiebe. In denen ich anderen Menschen zeige, dass eine Behinderung nicht ein isoliertes Leben bedeutet. Dass man die Depressionen nicht Überhand nehmen lassen muss. Und vor allem: dass man glücklich sein kann, dass man fighten kann, gemeinsam mit anderen Handicap-Sportlern. Bis am Ende nicht der Arzt, sondern die Ziellinie kommt.
Zehn Monate zuvor: Ich lese zufällig von diesem RAG, dem Race Across Germany. Ich denke zehn Jahre zurück, denke daran wie schön es damals war, 78 Stunden beim Langstreckenklassiker Paris-Brest-Paris mitzufahren. 46 Stunden Dauerregen hatten sich da in meinen Weg gestellt. Ich habe durchgetreten.
1100 Kilometer, 7500 Höhenmeter
Seit Mittwoch bin ich nun in Flensburg. Am Freitag um 8.44 Uhr ist mein Start. Regen, Regen und noch mal Regen kündigte der Wetterdienst an. Es war kein Niesel, und auch kein leichtes Geplätscher von oben. Sondern es kam alles vom Himmel, was vom Himmel kommen konnte. Dazu Wind: nicht wie aus einem Föhn, sondern wie aus einer Kanone geschossen, meistens von vorne. Im Regen ging ich auf die Strecke und im Regen sollte meine Fahrt ein trauriges, bitteres Ende nehmen.
Nach wenigen Minuten war mir schon bewusst, dass meine Kleidung dieser Flut nicht lange widerstehen würde - obwohl ich Hightech-Material am Köper hatte. Eine Stunde dauerte es, ehe ich mir sagte: „So jetzt stehen wir hier. Im Dauerregen. Jetzt kannst du es der Welt zeigen. Deinen Freuden, deiner Frau, deinen Kindern und deinen Enkelkindern. Zeigen, was du drauf hast. Sei auf jeden Fall ein Kämpfer. So, wie Du es nach dem Schlaganfall 1997 warst.“ Zitternd vor Kälte schlage ich gute neun Stunden später bei der ersten Timing-Station auf. Und setzte sofort auch meine SMS mit Name, Startnummer, Nummer der Timer-Station und Zeit an Dieter, den Chef des RAG ab. Nur ein Wort kam in seiner Antwort-SMS: „WOW!!“ Das hat mir da so gut getan. Dass man mir und meiner Leistung Respekt zollt. Ich fuhr sofort weiter, auf den Weg zur Timing-Station Seesen–Bilderacher Höhe, auf dem die 25 Anstiege des Harzes auf mich warteten. Die einen kleiner, die anderen scheinbar unbezwingbar.
Regen, Regen, Regen
Endlich hört es mal für eine Stunde auf, zu regnen. Ich hatte den Gedanken, für einige Minuten Pause im Trocknen zu machen. Hätte ich diesen Gedanken doch nur nicht aus meinem Kopf gelassen. Denn bei der Weiterfahrt schüttete es auf mich herab, wie es nur ging. Und auch mein Navi machte das zweite Mal schlapp. Zwanzig Minuten lang versuche ich, dieses Scheiß-Ding wieder zurück in sein, oder besser, zurück in mein Leben zu bringen. Ich hatte schon Tränen in den Augen, denn ich wusste: wenn das Navi nicht mehr geht, geht auch bei mir nichts mehr.
Gute 400 Kilometer hätte ich dann umsonst gefightet. Gefightet wie ein Stier in einer Manege namens RAG. Es ging einfach nicht mehr. Und ich holte mein Handy aus meinem 14 Kilogramm schweren Gepäck, verteilt auf Sattelausleger und Rucksack. Ich rief Dieter an, um ihm zu schildern, dass ich hier die Segel streichen werde. Ich sah keine Chance mehr, mit dem Kartenmaterial in jedem Ort neu den Weg suchen zu müssen. Bei Dieter ging nur die Mailbox ran. Scheiße! Ich stieg auf mein Rennrad und fuhr einfach die Straße entlang, drückte einfach nochmal auf mein Navi. Ich war von einer Sekunde auf die nächste der glücklichste Mensch auf dieser Strecke. Denn das Teil suchte den Track und die Anzeige sagte mir in Farbe: Du Narr, mach einfach weiter! Das tat ich dann auch sofort.
Probleme mit dem Navi
An einer steilen Rampe stieg ich ab. Ein Rennradfahrer gilt häufig als Weichei, wenn er absteigen muss. Ich wollte aber eben einfach mal für 100 Meter etwas anderes tun, als nur zu treten. Laufen war so schön dachte ich, während plötzlich Dieter über die Bergkuppe gefahren kam. „Hi Micha“, sagte er, „dein Navi scheint ja wieder zu funktionieren. Wie geht‘s dir denn? Du bist ja prächtig unterwegs.“ Ich antwortete, etwas überspielt: „Na gut, etwas angeknockt, aber ansonsten gut.“ Dann kam Heiligenstadt und sein langer Anstieg. Der nahm mich richtig ran. Mein Puls ging schon nicht mehr über 135, da mein Herz seinen Frieden mit mir und meinem Körper längst gefunden hatte.
Vorher hatte ich jedoch noch eine Schrecksituation, als ich mich nach einem Anstieg sofort in eine Abfahrt stürzte. Meine Bremsen funktionierten nicht mehr so, dass ich schnell hätte stoppen können. Die lange Fahrt im Regen hatte meinen Belägen so zugesetzt, dass sie fast komplett aufgebraucht waren. Ich betete wirklich darum, dass die Abfahrt nicht in eine Kreuzung, sondern in eine T-Kreuzung enden würde. Denn anhalten war nicht mehr. Mir schossen die verschiedensten Bilder durch den Kopf. Was würde passieren, wenn es da unten so ausgehen sollte wie ich das bitte, bitte nicht wollte? Ich hatte so ein Glück: T-Kreuzung. Kein Auto, das Vorfahrt hatte. Ich konnte um die Kurve schießen wie ein Torpedo. Sofort fuhr ich rechts ran und stellte meine Bremsen neu ein.
So kam ich in Eschwege an und bog ab, wo mein Navi es mir anzeigte. Durch den Schlafentzug war ich seit Längerem unkonzentriert: Ich machte einen Navifehler. Ich befand mich auf der B27 Richtung Eisenach und merkte das nicht einmal. Vielleicht auch deshalb, weil endlich mal eine breite Straße etwas Entspannung zuließ. Zum Glück hatte ich mein Handy nach meinem letzten Anruf mit Dieter in meine Oberrohrtasche gesteckt. Jetzt läutete es. Meine Frau war am Telefon und sagte mir ganz hektisch, ich sei komplett falsch und müsste sofort an der nächsten Abbiegung diese B27 verlassen um zur dritten Timing-Station nach Berka/Werra kommen. Einen ellenlangen Anstieg und schätzungsweise 15 Kilometer Umweg brachte mir das ein. Das kostete mich garantiert die eine Stunde, die ich in den letzten Stunden so mühselig herausgefahren hatte.
Schlafentzug
Endlich an der dritten Timing-Station angekommen, setzte ich sofort eine erneute SMS ab, zur Kontrolle für die Rennleitung. Ein Mitstreiter fuhr gerade an mir vorbei. Ich war mit ihm schon einige Zeit in einem kleinen Wettrennen verwickelt und wir wechselten uns ständig mit der Pace ab. Ich hatte nun an die 620 Kilometer mit Umwegen hinter mich gebracht und nach meinen Berechnungen noch gut 29 Stunden Zeit. Bis Kitzingen waren es noch an die 150 Kilometer. Ich hätte in die zweite Nacht hineinfahren müssen. Ich musste aber in dieser kommenden Nacht einfach irgendwo ein bis zwei Stunden Schlaf finden. Denn ich war sehr, sehr müde und ich hatte richtig damit zu kämpfen, wach zu bleiben. Körperlich war ich aber noch sehr gut dabei und hier fehlte mir überhaupt nichts.
Ich hatte noch alle Möglichkeiten, die Zeiten für die Qualifikation zum Race Across America (RAAM) zu schaffen. Die normale Karenzzeit von 57 Stunden war ohnehin keine Gefahr für mich. Standesgemäß empfing mich nach wenigen Minuten ein erneuter Regenguss, der mir den Dreck aus dem Gesicht spülte. Mir viel auf, wie schön breit die Straße war, und wie gut der Asphalt trotz des heftigen Regens rollte. Ständig überholten mich Autos auf dieser doch recht lebhaft befahrenen Straße. Schon wieder wurde ich unkonzentriert und sah erst spät, wenige Meter vor mir, ein schräg zur Fahrbahn verlaufendes Bahngleis. Da lag ich auch schon mitten auf der Straße. Das hinter mir fahrende Auto konnte gerade noch ausweichen. Welches Glück hatte ich doch an diesem Tag schon gehabt! Der Fahrer stieg sofort aus und erkundigte sich, ob bei mir alles ok sei. Mit Adrenalin im Überschuss bejahte ich.
Verhängnisvoller Sturz
Unter Schock stand ich am Fahrbahnrand, richtete mein Cockpit, und stieg ich wieder aufs Rad. Wenige 100 Meter später merkte ich jedoch, dass ich mich doch stärker verletzt zu haben schien, als ich gedacht hatte. Mein linkes Knie schmerzte, sobald ich darauf stärkeren Druck ausübte. Bis Dermbach und dann bis Kitzingen wollte ich aber auf jeden Fall noch kommen. In Dermbach ging es dann aber einfach nicht mehr weiter. Ich hatte durch einen Fehler alles weggeworfen. Ich setzte mich in ein Bushäuschen. Die Tränen konnte ich nicht zurückhalten, ich war einfach so leer wie schon lange nicht mehr. Ein Anruf bei meiner Frau. Ein gebuchtes Hotelzimmer. Ausmachen, mich am kommenden morgen abholen zu lassen.
Einige Tage nach diesem Desaster muss ich sagen: Das Leben ist viel zu kurz, um lange traurig zu sein. 2018 gibt es wieder ein RAG - und zwar mit mir. Dieses Mal werde ich es mit einem Begleitfahrzeug in Angriff nehmen. Ich werde erneut versuchen, als Handicapper ins Ziel zu kommen. Und diesmal werde ich dieses Ding aus einer anderen Welt besiegen. Und es dabei demütigen, so wie es dies mit mir getan hat.
Der Blick nach vorne
Ich denke immer wieder an diese Sekunde der Entscheidung. Vor allem denke ich dabei an alle anderen, die es geschafft haben. Aber auch an die anderen, die es wie ich nicht geschafft haben. Menschen, die so wundervoll gekämpft haben, um einen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Menschen, die es geschafft haben. Und Menschen, die es nicht geschafft haben. An die 30 Herzen, die alles gaben, um ihre Besitzer ins Ziel zu bringen. Und die Hälfte davon, die es nicht geschafft hat. Und ich denke an alle, die ich 2018 gerne wiedersehe, um diese wunderschöne Tortur erfolgreicher zu wiederholen.
Ich denke an die Agentur Göpfert um Dieter und Clemens, die ihr Herz in diese Veranstaltung gesteckt und dabei sicherlich viele Freunde gefunden haben. Und ich denke auch an mich, der einen wunderschönen, mehr als 30 Stunden währenden Traum träumen konnte. Einen Traum, den ich sehr gerne hier wiederholen und zu Ende träumen würde.
Platzierungen und weitere Infos unter: www.RaceAcrossGermany.de
Rekordzeit: Martin Temmen in 38:57 Stunden (Solo, mit Team)
Streckenrekord Frauen: Jaime Kelleher in 53:58 Stunden (Solo, mit Team)
Streckenrekord Männer: Bernd Paul in 45:41 Stunden, (Solo ohne Begleitfahrzeug)
Bereits im Frühjahr berichtete Michael Büttner auf www.radsport-rennrad.deüber sein Comeback.