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Tandem des Lebens

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02.08.2017

Tandem des Lebens

Plötzlich blind – das ist eine Horrorvorstellung. Für Tim Kleinwächter wurde der Albtraum im August 2006 Realität. Statt aufzugeben kämpfte sich der 27-Jährige zurück ins Leben. Heute ist er einer der besten deutschen Tandem-Radsportler – und hat große Ziele.

 

Es ist das wichtigste Rennen ihres Lebens. Zwei Männer auf einem Tandem, ihre Beine bewegen sich im Takt, sie ringen nach Luft – voll am Anschlag. Dies ist das Weltmeisterschaftsrennen. Es geht um alles. Sie haben sich nach und nach weiter nach vorne gearbeitet. Bis zu jener einen Abfahrt. Eine lange steile Gerade, 85 km/h, dann eine enge Kurve, Anbremsen, ein Knall. Dann ein zweiter. Beide Schläuche sind geplatzt – und mit ihnen der Traum der beiden Männer. 

Es war der 1. August 2015, die Weltmeisterschaften im Paracycling, in Nottwil, Schweiz. Für Erik Mohs und Tim Kleinwächter war es die letzte Chance, sich für die Paralympics in Rio de Janeiro zu qualifizieren. Nach den Reifenplatzern können sie einen Sturz gerade noch vermeiden. Doch der Defekt kostet Zeit, viel Zeit. Sie kommen als 16. ins Ziel. Zu wenig, um sich für Rio zu qualifizieren. Für die meisten Sportler wäre dies ein Fiasko. Viele träumen und trainieren für dieses eine Ziel, einmal im Leben bei den Olympischen Spielen dabei zu sein. Tim Kleinwächter hat in Sachen Schicksalsschläge völlig andere Maßstäbe. Und er hat ganz andere Prioritäten in seinem Leben.

Schicksalstag

Der Tag, der sein Leben verändert hat, liegt damals fast auf den Tag genau neun Jahre zurück: der 6. August 2006. Tim Kleinwächter ist 17 Jahre alt. Nachts radelt er mit Freunden von einem Open Air nach Hause. Wenige hundert Meter vor seinem Elternhaus trennt sich die Gruppe. Doch Kleinwächter kommt nie zu Hause an. Als ihn sein Vater später findet, ist er nicht ansprechbar. Sein Zustand verschlechtert sich rapide. Er wird mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma in eine Spezialklinik eingeliefert. Die Diagnose: Lungenversagen, ein schwerer Bluterguss im Kopf, halbseitige Lähmung, beidseitige Sehbehinderung. Kleinwächter wacht erst knapp vier Wochen später wieder auf. Er überlebt nur, weil er an einen erfahrenen Arzt mit der richtigen Ausrüstung gerät. „Es war wie ein böser Alptraum“, beschreibt er die Zeit nach seinem Unfall. Wie der Sturz passiert ist, weiß er nicht mehr. Geblieben ist eine starke Sehbehinderung. Seine Sehkraft beträgt heute gerade einmal zwei Prozent, seine Umwelt nimmt er als unzählige grell helle und schwarze Punkte wahr. „Es ist wie ein Ameisenrennen oder ein rauschender Fernseher.“ 

Tim Kleinwächter lebt für seinen Sport. Vor dem Unfall hatte er von Tennis über Radfahren bis Angeln vieles ausprobiert. Am meisten hat ihm das Fahrradfahren gefehlt. „Das bedeutet für mich Freiheit. Das will ich nicht missen.“ Für den heute 27-jährigen Mittelfranken stand deshalb schon im Krankenhaus fest: „Ich will wieder aufs Rad.“ Er kämpft sich durch die Reha und muss motorisch alles wieder neu lernen. Knapp ein halbes Jahr nach seinem Unfall fängt er wieder an zu trainieren: Nordic Walking, Schwimmen, Laufen, Rennradfahren auf der Rolle, das Deutsche Sportabzeichen, der erste kurze Triathlon. 2013 finisht er in Frankfurt am Main in 3:38 Stunden seinen ersten Marathon – mit einem Begleitläufer an seiner Seite. Kleinwächter steigert sich Stück für Stück. Parallel absolviert er eine Ausbildung zum Masseur, medizinischen Bademeister und Physiotherapeuten. Geholfen haben ihm auf diesem Weg, „mein christlicher Glaube, Familie, Freunde und vor allem mein eiserner Wille“.

Rekorde und Ziele

Im August 2011 nimmt ihn ein Freund zum ersten Mal auf einem Renntandem mit. Kleinwächter ist infiziert. Er begreift es als Chance, trotz Sehbehinderung wieder auf der Straße Rennrad zu fahren. Über Umwege kommt er in Kontakt mit Tobias Engelmann, dem Team-Manager des deutschen Paracycling Teams. Zusammen mit dem Leipziger Ex-Profi Erik Mohs beginnt er zu trainieren. Mohs sitzt vorne als Pilot, er selbst nimmt hinten, als sogenannter „Stoker“, zu Deutsch Heizer, Platz. Schnell schaffen sie den Sprung in den Nationalkader. 2014 starten sie für Deutschland bei der Bahn-WM in Mexiko. Zwar reicht es über die 4000 Meter „nur“ zum achten Rang, dennoch verbessern sie den Deutschen Rekord um etliche Sekunden auf 4:27 Minuten. Dass sie eines, wenn nicht sogar das zu dem Zeitpunkt beste deutsche Para-Tandem sind, belegen sie in den nächsten Jahren durch zahlreiche Top-Platzierungen. Doch nach über zwei Jahren trennen sich die Wege der beiden. 

Durch Zufall kommt Tim Kleinwächter beim Challenge-Triathlon 2016 in Roth, wo er mit einem Freund als Staffelradfahrer die 180 Kilometer in 4:33 Stunden absolviert, mit dem Vorstand des Radteam Herrmann, Peter Renner, ins Gespräch. Die beiden beschließen, es auf dem Rad miteinander zu versuchen. Renner, der gerade begonnen hat als Arzt zu arbeiten und bis dahin als erfolgreicher A-Amateurfahrer aktiv war, steigt vom normalen Rennrad aufs Renntandem um. Bereits bei der ersten gemeinsamen Trainingsfahrt merkt Kleinwächter, dass es passen könnte: „Den ersten Anstieg sind wir gleich synchron im Stehen hinauf gefahren.“ Der Rhythmus passt. Die Charaktere auch. „Eigentlich bin ich ganz froh, dass ich nicht in Rio war“, sagt Tim Kleinwächter, „ansonsten hätte ich Peter wohl nie kennengelernt.“ 

Teamsport

Tandemfahren ist ein vollkommener Teamsport. Pilot und Heizer bilden eine Einheit. „Man muss absolutes Vertrauen in den Vordermann und dessen Können haben“, sagt Kleinwächter. Er ist seinem Piloten praktisch ausgeliefert. Der Sehende steuert nicht nur, er gibt auch Signale dazu, wo es als nächstes hingehen soll. Inzwischen passiert das meiste ohne Worte – intuitiv. 

Die Abstimmung zwischen den beiden Piloten ist genauso wichtig wie ihre Leistungsfähigkeit. Egal, ob beim Auf- oder Absteigen, beim Attackieren im Wettkampf, beim Kurvenfahren oder im Wiegetritt: Beide Fahrer müssen ein eingespieltes, voll synchron arbeitendes Team sein. 

„Je besser die Abstimmung, desto besser die Performance“, sagt Peter Renner. Kleinwächter und Renner harmonieren von Anfang an: Schon bei ihrem ersten gemeinsamen Rennen im Oktober 2016 holen sie den Sieg beim Europacup. Im Training ist es auch der Rausch der Geschwindigkeit, der die Tandemfahrer motiviert. Gerade im Flachen haben selbst Top-Fahrer enorme Probleme, im Windschatten dran zu bleiben. Ein Renntandem ist deutlich schneller als ein einzelner Rennradfahrer: 65 bis 70 km/h in der Ebene? Kein Problem. „Selbst beim Grundlagentraining sind 200 Kilometer mit einem Schnitt von weit mehr als 35 km/h absolut keine Seltenheit“, sagt Peter Renner.

Mehr Training

Die Vorbereitung auf die Saison 2017 läuft für das Tandem Kleinwächter-Renner bislang nach Plan. Die Form stimmt. „Ich bin fitter als vor einem Jahr“, sagt Kleinwächter. Der Trainerwechsel zu Manfred Munk und ein verändertes Training zahlen sich aus. Der 27-Jährige verlässt sich jetzt primär auf die gefahrenen Wattwerte und nicht mehr nur auf die Herzfrequenz und das Körpergefühl. Sein Trainer analysiert regelmäßig die Daten seines Powermeters. In welchen Leistungszonen er trainieren soll, wird nach den Auswertungen von Leistungsdiagnostiken festgelegt. 

Von seinen durchschnittlich rund 27.000 Radkilometern pro Jahr hat der Bad Windsheimer bereits im April mehr als 7.500 Kilometer in den Beinen. Im Winter findet der Hauptteil seines Trainings auf dem Ergometer statt: erst Grundlage, dann nach und nach mit mehr Intervallen und einem steigenden Anteil intensiverer Einheiten. Den Grundstein für die Saison legte das Tandem-Duo im Frühjahr mit einem elftägigen Trainingslager auf Mallorca, bei dem über 1600 Trainingskilometer zusammenkamen. Unmittelbar vor und während der Wettkampfsaison sorgt bei Kleinwächter ein Mix aus Rollentraining im heimischen Keller und möglichst vielen gemeinsamen Ausfahrten mit Peter Renner und anderen Fahrern für den optimalen Formaufbau. Zu den durchschnittlich fünf Radeinheiten pro Woche kommen neben einigen Stabilisationsübungen noch die eine oder andere Lauf- und Schwimmeinheit als Ausgleich. Und auch ihrem giftgrünen Duratec Big Bang R 9-Renntandem haben die beiden für die neue Saison einige Upgrades verpasst: Eine spezielle Lenkerhalterung bringt mehr Stabilität für den hinteren der beiden Athleten, für Tim Kleinwächter. 

Für dieses Jahr hat sich das Tandem-Duo Renner/Kleinwächter viel vorgenommen. Nach dem Saisonstart beim Europacup Ende April in Italien steht zunächst ein Heimrennen an: Die Bayerischen Straßenmeisterschaften in Baiersdorf bei Erlangen – der Heimat des Radteams Herrmann. Neben den Deutschen Meisterschaften haben die beiden auch die Staffelteilnahme beim Challenge-Triathlon in Roth am 9. Juli als Ziel. Dort wollen sie eine neue persönliche Radbestzeit aufstellen. Das große Ziel 2017 lautet aber: die Weltmeisterschaften in Südafrika. Um Ende August in Pietermaritzburg dabei zu sein, müssen die beiden jedoch vorher einige Top-Platzierungen bei Weltcup-Rennen holen. Sie werden alles dafür tun, um dort am Start zu sein – bei einem so extrem wichtigen Rennen, einem Rennen am südlichen Ende des afrikanischen Kontinents, einem Rennen gegen die Besten. Es wäre ein Höhepunkt des neuen Lebens des Tim Kleinwächter – rund elf Jahre nach dem Tag, der sein Leben für immer verändert hat. //

 

Steckbrief: Tim Kleinwächter

Alter: 27 Jahre

Wohnort: Bad Windsheim (Bayern)

Disziplin: Renntandem (Rennklasse Paracycling B)

Aktuelles Team: Radteam Herrmann (www.herrmann-radteam.de

 

Erfolge (Auswahl):

  • 3-facher Deutscher Meister im Straßenrennen und Zeitfahren
  • 2 Europacup-Siege mehrere Top-10-Platzierungen bei Europacup-
  • Straßenrennen und Weltmeisterschaften im
  • Straßenrennen sowie auf der Bahn

Quelle: 

Text: Andreas Regler; Fotos: Thiemo Wenkemann, privat

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