Der letzte Tritt. Ziel. Nichts geht mehr. Bei mir nicht und vor mir auch nicht. Dort versperrt das halbe Peloton den Weg. Manche Fahrer hängen über ihren Lenkern, andere liegen mit Krämpfen am Boden oder lehnen spannungslos an der Steinmauer am Straßenrand. Ein Schlachtfeld. Ich schlängle mich an den lädierten Körpern vorbei. Nur raus aus dem Chaos, irgendwohin. Plötzlich sehe ich etwas neben mir. Ich rieche es. Es schimmert feucht und orange und goldgelb. Dort zieht es mich hin. Zu diesem großen klapprigen Campingtisch, auf dem aufgeschnittene Bananen und Orangen vor sich hin duften. Leicht zittrig nähere ich mich dem rettenden Buffet.
Radsportland
Orange, Banane, Orange, Banane - und dasselbe wieder von vorne. Langsam spüre ich den Zucker. Meine Gedanken werden wieder klarer. Erst jetzt merke ich, dass ich den Granfondo Florenz geschafft habe, dass alles vorbei ist, endlich. 140 Kilometer und 2.700 Höhenmeter habe ich hinter mir. Das sind die Daten der Runde, für die ich mich entschieden habe. Zur Auswahl stand noch die Mediofondo-Variante mit 95 Kilometern und 1.400 Höhenmetern. Ich hätte also eine leichtere Option gehabt. Wobei das Wort „leicht“ hier eigentlich immer fehl am Platz ist. Zumindest in Verbindung mit dem Wort „Radfahren“. Denn dies hier ist das Land der Granfondos, der großen Radmarathons, der unzähligen sehnigen, durchtrainierten, braungebrannten Hobbyradsportler, die aussehen wie Tour-de-France-Fahrer. Und auch fast so fahren.
Motivationsschub
Kilometer 40. Meine Beine fühlen sich gut an. Zumindest bis zu diesem Streckenpunkt, einem entscheidenden: der Weggabelung. Ich bin davon überzeugt, auf der großen Runde keinerlei Probleme zu bekommen. Also biege ich rechts ab. Die Rückkehr auf den Boden der Tatsachen erfolgt schnell. Um genau zu sein: ein Kilometer später. Dann beginnt nämlich der erste richtige Berg des Granfondo Florenz, der Passo del Giogo. Seine Länge: rund zehn Kilometer, seine Höhe: 882 Meter. Bei der Hälfte der Steigung denke ich kurz ans Umdrehen. Ich verwerfe meine Überlegung aber sofort wieder, als neben mir dieser kleine 55-Kilo-Bergfloh auftaucht. Das Männchen ist geschätzt mehr als doppelt so alt wie ich. Mein Kampfgeist ist geweckt.
Nach einer kurzen Phase der Beschleunigung fangen meine Beine trotzdem wieder an, sich bemerkbar zu machen. Dieses Mal dauerhaft. Über mir ist ein Wolkenbrei, die Sonne kommt kaum noch durch. Der Wind frischt auf. Es wird kühler, je weiter es hinauf geht.
Kurzer Lichtblick
Abfahrt. Ich trete mit Volllast und schaffe gerade so die 30 km/h. Der Wind bläst mir ins Gesicht. In Italien kann man sich scheinbar nicht einmal bergab erholen. Rechts und links schießen die anderen an mir vorbei. Oft drei, vier Leute hintereinander in gleichen Trikots. Sie kreiseln. Ihre Trittfrequenz ist hoch, ihre Waden sind ausdefiniert. Sehr viele italienische Hobbyfahrer sind in Vereinen oder Granfondo-Teams organisiert. Sie starten bei vielen Radmarathons, sie trainieren zusammen - und sie trainieren hart. Das bekommt man hier zu spüren.
Am Horizont entdecke ich „Klein Florenz“. Der Ort, der einst dazu da war, um das guelfische Florenz vor der ghibellinischen Familie der Umberti zu beschützen. An die kämpferische Zeit erinnert immer noch das massive Stadttor, durch das ich mit einer kleinen Gruppe presche. Innerhalb der Mauern geht es über holprige, große Steinplatten. Zumindest diese erinnern mich an Florenz und an die Strecke heute Morgen. Sonst hat das Örtchen nicht viel mit dem Start- und Zielort des Granfondo zu tun. Schnell sind wir wieder heraus aus der Stadt, und zurück in den Bergen, im Niemandsland, im Verderben. Das nächste Ortschild: Florenz – 70 Kilometer. Stimmungstief.
Nach einem kurzen Flachstück folgt schon wieder der nächste Anstieg, der Passo della Futa, der höchste des Rennens und aus historischer Sicht besonders interessant. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieg haben hier Kämpfe stattgefunden. Nicht ohne Grund findet man dort den größten deutschen Soldatenfriedhof Italiens.
Weltmeisterlich
Die Atmosphäre im ausgedünnten Peloton passt dazu. Alle schweigen. Fast jeder starrt zwei Meter vor seinem Vorderrad auf den Teer. Dass die anderen auch mit sich selbst beschäftigt sind, beruhigt mich. Vielleicht liegt mein Zustand doch nicht ganz so sehr an der eigenen schlechten Form. Vielleicht ist doch einfach die Strecke so hart. Es wäre verständlich. Schließlich wurde der Granfondo Florenz 2013 ins Leben gerufen, in dem Jahr, in dem auch die Straßenweltmeisterschaften in Florenz stattfanden. Manche Streckenabschnitte sind identisch.
Die letzten Kilometer führen flach bis wellig um den Lago di Bilancino und kosten noch einmal Körner. Ab Le Croci ist es dann aber geschafft. Das denke ich zumindest. Mit Rückenwind und bergab verfliegen die letzten Meter von alleine. An der Ein-Kilometer-Marke bin ich mir noch sicher, dass ich mich nicht mehr anstrengen muss. Dann kommt die 90-Grad-Kurve. Nach ihr ist die Sicht frei auf eine 500 Meter lange, kerzengerade Rampe. Weit oben sehe ich schon Fahrer im Zickzack um jeden Meter kämpfen. Mein Kopf sinkt nach unten, der rechte Zeigefinger tippt schon im Flachen, bis der leichteste Gang aufgelegt ist. Schlimmer kann das Finale eines Rennens kaum sein.
Das Radfahren in Italien ist immer etwas Besonderes. Man ist nie allein. Man kann immer ins Gespräch kommen. Man kann an jedem Wochenende einen anderen Granfondo fahren. Es gibt unzählige. In vielerlei Hinsicht ist der italiensche Radsport dem deutschen weit voraus.
Doch das Niveau in den Spitzengruppen und Feldern dieser Rennen für „Hobbyfahrer“ ist enorm hoch. Ich habe nicht gewusst, dass man innerhalb von so wenigen Metern so großen Hunger bekommen kann, dass es einem den berühmten Stecker noch am Ende einer Tour so explosiv ziehen kann. Im Schneckentempo überquere ich die Ziellinie. Meine Zeit ist mir egal, meine Platzierung ist mir egal. Ein einfaches Campingtischchen mit aufgeschnittenen Bananen und Orangen – das ist alles, was jetzt zählt. |||||
Die bekanntesten italienischen Granfondos
- Granfondo Felice Gimondi10. Mai162 Kilometer2479 Höhenmeter
- Nove Colli 24. Mai200 Kilometer3840 Höhenmeter
- Maratona dles Dolomites5. Juli138 Kilometer4230 Höhenmeter
- La Fausto Coppi12. Juli177 Kilometer4125 Höhenmeter
Rennrad-Reiseveranstalter Bike Division
Bike Division organisiert weltweit Rennradreisen zu Granfondos, bietet aber auch Programme ohne Rennen an. Zum Beispiel in den Alpen, den Dolomiten, in Apulien, der Toskana, auf Sardinien oder auf Sizilien. Dort bekommen die Teilnehmer Technikschulungen, werden beim Training betreut und können verschiedene Fabriken von Radunternehmen besuchen. Es geht um Radsport und Radkultur.
Mehr Infos auf www.italybikedivision.de