Kommentar: Saubere Leistung vs. Dopingverdacht
Radsport: Diskussion um Ötztaler Sieger Bernd Hornetz
Was 2016 passiert ist: Ein „normaler“ Mensch hat den wohl berühmtesten Radmarathon der Welt gewonnen: den Ötztaler. Rund 240 Kilometer, rund 5.500 Höhenmeter, 20.000 Bewerber, 4.000 Starter, darunter die wohl stärksten Radmarathonfahrer der Welt. Der Gewinner bricht den Streckenrekord, er fährt 6:57 Stunden. Er ist 48 Jahre alt, arbeitet 40 Stunden pro Woche. Das erste Mal auf dem Rennrad saß er mit 32. Ich habe schon 2013 ein Portrait über ihn geschrieben. Danach hat er regelmäßig für die RennRad von seinem Training und seinen Radmarathons berichtet. Ich bin demnach kein „objektiver Beobachter“, wobei dies kein Journalist zu keinem Thema ist, 100 prozentige Objektivität ist in diesem Bereich nicht möglich. Dies ist ein Kommentar, in dem ich meine Meinung zu den Verdächtigungen gegen den Sieger eines wichtigen Radmarathons zusammenfasse.
Zum einen kann ich diese Reaktionen verstehen. Denn viele Sieger und Top-Platzierte des Ötztalers und anderer Radmarathons oder Jedermann-Rennen wurden bereits des Dopings überführt - etwa Igor K. nach seinem Sieg beim Jedermann-Zeitfahren um den Attersee, King of the Lake. Diesen Fall schildern wir in der aktuellen Print-RennRad-Ausgabe Nummer 4. Auch Bernd Hornetz‘ ehemaliger Teamkollege Roberto Cunico, der zweimalige Ötztaler-Sieger, wurde des Dopings überführt. Und die Fahrzeit von unter sieben Stunden ist extrem schnell. Aber: Hier geht es nicht nur um einen Menschen, sondern auch um einen generellen Mechanismus: Es besteht ein Generalverdacht gegenüber außergewöhnlichen Leistungen. Man kann sich entscheiden, an was man als erstes denkt, wenn man außergewöhnliche Leistungen sieht: An Betrug oder an ein Zusammenspiel aus hartem, langjährigem Training und Talent.
Schuld- oder Unschuldsvermutung?
Die meisten bedenken nicht, wie die Spitzenfahrer dieses Rennen angehen: Sie kennen jede Kurve in den Abfahrten – auch bergab kann man viele Minuten gewinnen oder verlieren. Sie halten nie an, sie wechseln sich in der Führungsarbeit ab, das Tempo ist immer hoch. Zudem waren die Wetterbedingungen im vergangenen Jahr optimal. Ich würde für niemanden die Hand ins Feuer legen. Natürlich besteht die Möglichkeit, das viele der Topfahrer nicht sauber sind. Aber sieben Stunden für diese Strecke sind nicht "übermenschlich". Ja, sieben Stunden sind auch für einen Nicht-Profi möglich. Mit extremem Talent – allein die maximale Sauerstoffaufnahme ist zu rund 50 Prozent genetisch bedingt – und extremer Selbstdisziplin und Selbstaufopferung. Ja, die hier, vom Kollegen von Unterlenker.com ausgerechneten Leistungswerte sind sehr hoch. Natürlich bietet sich hier Interpretationsspielraum.
Bernd Hornetz kam nicht aus dem nichts. Er ordnet seit vielen Jahren sein Leben dem Radsport unter. Er hat etliche Siege geholt. Er hat als erster Nicht-Italiener den Nove-Colli-Radmarathon gewonnen, er war UCI-Amateur-Weltmeister. 2016 ist er in 20 Wochen vor dem Ötztaler rund 18.000 Kilometer und 250.000 Höhenmeter gefahren. All das macht er mithilfe der Trainings-App Strava transparent.
Zudem geht es hier nicht nur um einen Einzelfall. Es geht um die generelle Sicht auf eine Sportart – und auf besondere Leistungen. Im Juristischen gilt die Unschuldsvermutung. Im Radsport offenbar nicht. Ist diese Verdachts- eine gesunde Atmosphäre? Gilt diese Schuldvermutung für alle Sportarten? Ein Generalverdacht lässt langfristig die ganze Sportart erodieren. Wenn ein Real-, Barca- oder Bayern-Spieler zehn Tage nach einer schweren Verletzung wieder auf dem Platz steht oder nach 60 Saisonspielen in der 120. Minute des Champions-League-Finales bei seinem 60. Zehn-Meter-Sprint noch genauso schnell ist wie bei seinem ersten, sagt niemand: "Das geht nur mit Doping." Wobei klar ist, dass Doping im Spitzensport systemimmanent ist. Genauso wie die „Selbstoptimierung“ um jeden Preis zu den Auswüchsen einer Leistungsgesellschaft gehört.
Bernd Hornetz‘ Trainingspensum auf strava: https://www.strava.com/athletes/7098631